Design Thinking und die Politik

Fiktive Fallstudie #1: Design Thinking in der Politik – ein gedankliches Experiment

Am 01.09.2019 hat Sachsen seinen Landtag gewählt. 67 % der wahlberechtigt sächsischen Bevölkerung wanderten an diesem Sonntag ins Wahllokal oder gaben ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl ab. Die Wahlbeteiligung zur Landtagswahl vor vier Jahren betrug gerade mal 49%. Die Wahl in diesem Jahr hat erfreulicher Weise viele Menschen mobilisiert.

Die Ergebnisse sind dagegen eher ernüchternd. Die vermeintliche Alternative ist zweitstärkste Partei in Sachsen geworden. Die Reaktionen in meinem persönlichen Umfeld sind von Sprachlosigkeit, Unverständnis und Ohnmacht geprägt, da sich das Wahlprogramm der Alternativen sehr nationalistisch wie ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert liest. Kernthema ist unter anderem die innere Sicherheit und das Familienmodell der AfD erinnert an 1930.

Was ist die Motivation der knapp 600.000 Menschen, die diesem Wahlprogramm eine Stimme gegeben haben? Welche Veränderung wünschen sich diese Menschen? Wurde aus Überzeugung oder aus Protest gewählt? Insbesondere Menschen aus dem ländlichen Raum wählten blau. Es heißt, die ländliche Bevölkerung wäre „abgehängt“. Von was? Was macht die Unzufriedenheit aus bzw. welche Inhalte und Veränderungen brauchen insbesondere Wahlkreise wie Bautzen, das Meißner Land oder Görlitz?

Lasst uns hinter die Kulissen schauen und einen gedanklichen Versuch starten. DesignThinking kann auf jedes Problem und komplexe Fragestellung Anwendung finden. Und je verwobener die Thematik ist, desto besser passt ein iteratives Erkunden.

  1. Set-Up
    In der Set-up Phase bestimmen wir das Team und die Zeit, die wir uns dem Sprint geben wollen. Idealerweise finden wir vier bis sieben interdisziplinäre Personen, die sich diesem Thema widmen wollen. In diesem Fall sollten die Personen auch unterschiedlichster Generationen angehören, um hier die verschiedenen Erfahrungen der jeweiligen Zeit einfließen zu lassen. Je nach Verfügbarkeit des Teams können die einzelnen Phasen in einem intensiven kurzen Sprint von einer Woche oder für einen längerem Zeitraum entzerrt geplant werden. Zeit für weitere Iterationsschleifen sollten wir unbedingt berücksichtigen.Die anfängliche Fragestellung, die zugleich auch eine erste Annahme für ein mögliches Problemfeld darstellt, könnte wie folgt lauten: „Wie können wir es schaffen, dass die Bürger und Bürgerinnen im sächsisch ländlichen Raum sich durch die Politik der etablierten Parteien gut aufgehoben fühlen?“Der nachfolgende Sprint überprüft diese Annahme, ggf. formulieren wir diese Fragestellung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal neu.
  2. Understand
    In einem ersten Schritt analysieren wir den Problemraum. Das Team wirft dabei seine eigenen Annahmen, Assoziationen und Gedanken aus dem Kopf an die Metaplanwand, um anschließend möglichst wertfrei und offen auf die betreffenden Menschen zuzugehen. Was verbindet das Team mit der Fragestellung? Wie nehmen Sie die sächsische Politik wahr? Welche Problemfelder werden vermutet? Die Teammitglieder tauschen sich zu Ihren Interpretationen aus, die aus den ganz individuellen Erfahrungen, Wissenstand und Sozialisierungen resultieren. Zugleich recherchiert das Team nach weiteren Fakten, die für die nächste Phase benötigt wird.
  3. Observe
    Auf Basis des gegenseitigen Austausches erstellt das Team einen Interviewleitfaden und definiert Kernfragen. Damit geht das Team auf die Menschen im ländlichen Raum zu, befragt diese nach ihrem Verhältnis zur gegenwärtigen Politik, nach Wünschen und Bedürfnissen. So überprüft das Team ihre eigenen Annahmen und taucht mit einem einfachen WARUM tiefer in die Materie ein. Durch einfaches Zuhören erfährt das Team weitreichende Erkenntnisse.
  4. Point-of-View
    Welche Aussagen, Bedürfnisse, Schmerzen und Motivatoren hat das Team gesammelt? Vielleicht haben die Teammitglieder etwas darüber erfahren, dass viele jungen Menschen aus den Dörfern ziehen, dass ein Bevölkerungsschrumpfen mit schließenden Schulen und Kindertagesstätten einhergeht? Vielleicht hat das Team auch mit den Bürgern und Bürgerinnen über Perspektiven und ggf. Perspektivlosigkeit gesprochen? Vielleicht kam auch gefühlt fehlender kollektiver Zusammenhalt zur Sprache, vielleicht auch noch nicht aufgearbeitete Wendeereignisse, die die Menschen geprägt haben? Die Antworten und Gespräche können vielfältig sein, hier können wir nur Vermutungen anstellen.Die auf der Metaplanwand gesammelten Gesprächsnotizen können vielleicht schon in einem ersten Schritt geclustert und in Zusammenhang gebracht werden. Es ergibt sich dadurch ein größeres Bild auf die Thematik. Auf Basis dieser Erkenntnisse und der entwickelten Empathie für die Menschen erstellt das Team eine Persona, eine Beispielperson mit der Zusammenfassung der Bedürfnisse, Motivatoren und Schmerzpunkte. Diese Persona dient als Anker für den weiteren Prozess.Mit den neuen Erkenntnissen hat das Team ein umfassendes Problembewusstsein bekommen. Um sich nur auf einen Teilbereich zu fokussiert, werden Brainstormingfragen mit Hilfe der „how might we…“ Formulierung entwickelt und nur die für relevant erachteten Fragestellung für die Lösungsfindung herausgegriffen.
  5. Ideation
    Vom Problemraum geht es nun in den Lösungsraum. Mit verschiedenen Brainstormingfragen und -methoden produziert das Team möglichst viele und vielfältige Ideen, schreibt diese auf Post-Its, baut auf diesen Ideen auf, entwickelt darauf weitere Ideen und beschreibt noch mehr Post-Ist. Bei der Ideengenerierung beschränken sich die Teammitglieder nicht durch die politischen Rahmenbedingungen, Regulatorien oder die Schwierigkeit, Veränderungen im politischen Umfeld zu bewirken. In dieser Phase ist noch alles möglich.
  6. Prototyping & Test
    Erst in dieser Phase erfolgt die Bewertung der Ideen. Das Team wählt eine Idee aus, stellt diese als anfassbaren Prototypen dar und holt dazu Meinungen, wieder von den Menschen vor Ort, ein. Welche Idee wird wohl als ersten Prototypen getestet werden? Vielleicht eine Bürgerbeteiligung? Ein schwarzes Brett für Wünsche und Anregungen? Oder gar ein anderes politisches System?Oder ein offensives Kennenlernen von Flüchtlingsfamilien?

Damit ist der DesignThinking-Prozess einmal durchlaufen. In jeder Phase wurden neue spannende Erkenntnisse gewonnen, mit dem ersten Durchlauf hat das Team intensiv Empathie mit den Bürgern und Bürgerinnen entwickelt und kann die Wahlergebnisse nun vielleicht besser deuten. Um jedoch eine wirklich nutzenstiftende Idee umzusetzen, empfiehlt es sich zu iterieren, noch einen anderen Prototypen zu testen, eine neue Befragung anzustoßen, eine andere Fragestellung zu formulieren, weitere Ideen zu sammeln.

Design Sprints sind ergebnisoffen. Niemand weiß mit Start eines Sprints, welche Ergebnisse am Ende entstehen. Sicher ist jedoch, dass durch das ins Gespräch gehen und durch das Zuhören Erkenntnisse gewonnen werden, die zum Miteinander beitragen.

 

 


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